Vor uns blitzt etwas zwischen den Ästen auf. Ein vertrautes Blinken – Sonnenlicht, das sich auf Kettenrüstung spiegelt. Kein Zweifel, hinter dieser Wegbiegung lauert jemand. Wir schwingen uns aus dem Sattel, schleichen ein paar Meter weiter bis zur Kuppe und lauschen auf die Stimmen. Eine fremde Sprache – Kumanen also.
In den meisten anderen Spielen würden wir uns jetzt überlegen, wie wir mit einer Gruppe von vielleicht vier oder fünf Gegnern fertig werden. In Kingdom Come: Deliverance machen wir auf dem Absatz kehrt, klettern wieder auf unsere treue Schindmähre Pebbles und reiten in die entgegengesetzte Richtung, so schnell wir können.
Das hat Kingdom Come nämlich geschafft: Dass wir um unsere virtuelle Haut fürchten. Und dabei ist Henry – oder Heinrich, oder Hal, je nachdem, wer den Protagonisten anspricht – nach fünfzehn, zwanzig Spielstunden durchaus schon ein ernst zu nehmender Recke. Plattenrüstung, Kettenzeug, ein schmuckes, scharfes Schwert, ein Schild, kurzum, Henry kann sich wehren.
Aber ungeachtet dessen verzeiht uns Kingdom Come keine Fehler – und mitten in eine Gruppe von Feinden hineinzutrampeln, das ist definitiv ein Fehler, und meistens einer mit tödlichen Folgen.
Nahkampf oder Silberzunge?
Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – sind die Kämpfe in der böhmischen Provinz ein absolutes Highlight in Kingdom Come: Deliverance. Weil sie Sinn machen, weil sie sich glaubhaft anfühlen. Wir spüren, dass wir das flinke Kurzschwert gegen ein Langschwert eingetauscht haben und damit langsamer sind – aber wehe, wir landen einen Treffer. Wir achten auf jede Bewegung unseres Gegners, um seinen Angriff vorherzusehen und zu kontern. Und der Triumph, wenn er dann die Waffen niederlegt (oder gleich sich selbst), ist ein absolutes Hochgefühl.
Nach fast sechs Jahren Entwicklungszeit ist Kingdom Come ein beeindruckendes Erlebnis. Blessuren im Gesicht unserer Gegner, sichtbare Schäden an ihrer Rüstung und Kleidung, Funken schlagende Schwertkämpfe und dann noch die wirklich atemberaubend schöne Landschaft samt malerischer Lichtstimmung schaffen ein denkwürdiges visuelles Abenteuer. Das hervorragend funktionierende Kampfsystem zählt ebenfalls zu den technischen Stärken.
Außerdem bestimmen wir selbst, in welche Richtung sich der am Beginn des Spiels noch reichlich hilflose Schmiedesohn Henry entwickelt: Sollen wir uns auf den Nahkampf fokussieren, oder versuchen wir als redegewndter Schmeichler, Kämpfen aus dem Weg zu gehen? Legen wir unseren Fokus lieber auf die Verteidigung, oder wollen wir Kämpfe rasch beenden? Durch unser Handeln steigen wir in den verschiedenen Talentbäumen auf, schalten Boni frei und erhöhen unsere Chance, unsere Gesprächspartner zu überzeugen.
Zu schön, um wahr zu sein
Allerdings hat die Sache auch einen Haken: Trotz der langen Entwicklungszeit, der umfangreichen Beta-Phase und dem langen Feinschliff hakelt es an allen Ecken und Enden – und zwar wirklich an allen. Da wäre zum Einen die stellenweise furchtbare Wegfindung der KI, die nur allzu oft an Zäunen, Mauern oder Hausecken hängen bleibt. Besonders ärgerlich, wenn dann der junge Adelige, den wir auf die Jagd begleiten sollen, schon beim Ritt aus der Burg mit seinem Schlachtross hängen bleibt – und wir mangels Speicherpunkten unter Umständen enorm weit zurückgeworfen werden, weil außer einem Reload nichts hilft.
Auch die schöne Grafik leidet: Objekte ploppen plötzlich ins Bild, Charaktere glitchen durch Wände hindurch, und allzu oft laden Texturen erst eine Minute, nachdem wir schon direkt vor ihnen stehen. Da verschwindet die schöne Immersion dann plötzlich wieder.
Stichwort zurückwerfen: Das Speichersystem in Kingdom Come ist eine Herausforderung für sich. Gespeichert wird auf drei Arten: Entweder beim Start einer Mission (hier erstellt das Spiel automatisch einen Speicherstand für uns), beim Schlafen in einem Bett (ebenfalls ein Autosave) oder manuell – das geht aber nur dann, wenn wir den entsprechenden Trank im Inventar haben. Das geht zwar gut mit dem generellen Thema von Kingdom Come einher – “Denke über deine Handlungen nach” – ist angesichts des happigen Schwierigkeitsgrads aber oftmals nur noch frustrierend.
Darüber tröstet nur zum Teil hinweg, dass Kingdom Come: Deliverance eine der schönsten Spielwelten seit langem bietet. Das 16 Quadratkilometer große Areal tief im mittelalterlichen, ländlichen Böhmen ist mit viel Liebe zum Detail gebaut. Die Dörfer, Städtchen und Burgen wirken glaubhaft und lebendig. Viele der Charaktere haben eine Hintergrundgeschichte, die wir – wenn wir uns richtig anstellen – entschlüsseln können: So können wir beispielsweise in Erfahrung bringen, woher denn der Priester, der hinter der Kirche mit dem Holzschwert übt, seine Erfahrung im Schwertkampf hat.
Lass mich dich lieben
Kingdom Come: Deliverance gibt sich so große Mühe, alles richtig zu machen. Wir selber geben uns mindestens genauso große Mühe, es zu mögen – aber einfach macht es uns das Spiel nicht. So wunderschön die Spielwelt ist, so spannend die Hauptstory und so interessant die Nebenquests auch sind, so sympathisch uns der Protagonist Henry mit der Zeit auch wird – es krankt an so vielen Ecken und Enden.
Die zahlreichen Bugs, in Verbindung mit dem frustrierenden Speichersystem und dem angesichts der wirklich fordernden Kämpfe nicht seltenen Ableben unseres Alter Ego, machen Kingdom Come zu einer Herausforderung selbst für frustresistente Spieler. Und so sehr das Spiel zunächst auch auf Entscheidungsfreiheit zu bauen scheint – in Wirklichkeit läuft die Entwicklung unseres Protagonisten immer in die gleiche Richtung.
Was das kleine tschechische Indie-Studio Warhorse mit Kingdom Come: Deliverance auf die Beine gestellt hat, ist aller Ehren wert. Und die Bugfixes kommen nach und nach – mit einem Day-One-Patch wurde viel nachgebessert, der nächste größere Patch kommt in etwa zwei Wochen und soll viele Fehler und Technik-Mängel beheben. Aber trotzdem… Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack.
Kingdom Come: Deliverance ist ein gutes Spiel, aber es versäumt den Sprung zum Meisterwerk. In vielen Momenten lieben wir es – wenn wir mit der hübschen Theresa am Fluss spazieren gehen; wenn wir einen jungen Adeligen aus den Händen von Banditen befreien; wenn wir einen fordernden Kampf gegen eine Übermacht gewinnen; wenn uns Leute nur aufgrund unserer Rüstung nicht mehr mit “Bursche”, sondern plötzlich mit “Sir Knight” ansprechen.
In nicht weniger Momenten hassen wir es – wenn wir zum gefühlt siebzehnten Mal von der zuvor erwähnten Übermacht zusammengeschlagen werden, weil sich vier Feinde von allen Seiten auf uns stürzen; wenn uns ein Wegfindungs-Bug anderthalb Spielstunden zurückwirft; wenn wir auf einen ewigen Ladebildschirm starren, bis wir endlich mit einem Gesprächspartner reden können.
So können wir Kingdom Come: Deliverance am Ende weder lieben noch hassen. Nicht lieben, weil es uns so oft frustriert, so oft an der Technik verzweifeln lässt, so oft durch Grafikfehler wieder aus der Immersion holt. Nicht hassen, weil es am Ende immer noch ein wirklich gutes Spiel ist.
Es steckt so viel ungenutztes Potential in Kingdom Come, so viel Raum für ein wahrhaft denkwürdiges Stück Rollenspielgeschichte. Wenn die nächsten Patches die vielen Technikprobleme ausmerzen, die Hardware-Anforderungen auf ein vernünftiges Maß senken und die gute Atmosphäre noch weiter vertiefen, dann wird Kingdom Come: Deliverance vielleicht doch noch ein Meisterwerk.